15.2. – 3.5.2009
Davide Cascio A Portrait of the Man as a Building
Der Tessiner Künstler Davide Cascio (*1976) sondiert Vergangenheit und Gegenwart nach Architektur-, Design-, Literatur- und Gesellschaftsentwürfen mit utopischem Potenzial.
James Joyce’s Ulysses, Le Corbusiers Esprit Nouveau oder Yona Friedmans urbanistische Superstruktur-Modelle dienten ihm bisher ebenso als Horizonte seiner Denkexpeditionen wie alltägliche Werbe- und Wunschwelten der 1960er und 70er Jahre. In seinen Arbeiten prüft er utopische Ideologien auf ihren gesellschaftlichen Gehalt. Cascio verwendet einfaches Material wie Karton, Holz und Neonlicht und schafft damit allegorische Installationen, die Obsessionen, Hoffnungen und Träume des gesellschaftlichen Fortschritts spiegeln. Parallel zeigt er immer auch Collagen, in denen er verführerische Bilder aus Werbung und Fashion-Magazinen zu retro-futuristischen Szenarien kombiniert. Seine Arbeiten kommentieren das metaphysische Versprechen eines harmonischen, auf den Menschen abgestimmten Wohn- und Lebensraums, das in der Geschichte der Moderne wiederholt Konjunktur hatte und heute mit den Fragen um Mobilität und Hightech anhaltende Aktualität besitzt.
Im Kunsthaus Glarus wählt Cascio utopische Architekturkonzepte als Startpunkt seiner Arbeiten. Ausgehend von der Rasterstruktur der Bodenplatten des Seitenlichtsaales baut er eine Rauminstallation, die sich auf Yona Friedmans Ville Spatiale und Le Corbusiers Ville Radieuse, insbesondere die Unité d’Habitation, bezieht. Beiden Architektur-Philosophien liegen vergleichbare Gesellschafts- und Konstruktionskonzepte zugrunde. Sie sind geprägt von einem Raster von mehrgeschossigen Eisenbeton-Strukturen, die durch Pilotis getragen werden, Curtainwall-Fassaden und bei Le Corbusier auch die Modulor-Struktur der Wohneinheit. Die Ausrichtung des Massstabs auf den Menschen sowie Verdichtung und Standardisierung dienten der Schaffung besserer Lebensbedingungen bei zunehmender Raumknappheit. Beide Architekten konzipierten vertikale Stadt-Strukturen, die bei Friedman gar als Brücken über bestehende Städte und Landschaften gelegt wurden. Friedman beabsichtigte, für die Bewohnern der Zukunft eine flexibel gestaltbare und mobil erweiterbare Lebensumwelt zu schaffen. Seit den 1970er Jahren engagierte er sich in Entwicklungsländern für einfaches Bauen unter Verwendung lokaler Materialien und Bauweisen als Selbstversorgungs-Systeme und versuchte so, die gesellschaftliche Utopie egalitärer sozialer Strukturen zu realisieren.
Cascio setzt die utopischen Visionen modellhaft um. Wie bei Friedman ist der Modul-Charakter der Installation im Kunsthaus Glarus standardisiert und imaginär unendlich erweiterbar. Das Material Holz verwendet Cascio als Referenz zum einfachen Bauen, zur Hütte als Archetypus des Wohnens und schafft damit zudem einen Bezug zur handwerklichen Fabrikation von alternativem Lebensraum autarker Gesellschaftsformen. Der Glarner Volkspark im Aussenraum des transparenten Pavillonbaus des Kunsthauses bildet einen realen Hintergrund für die Installation und spielt auf die Einbettung in die Natur an, die auch bei den urbanistischen Projekten Friedmans und Le Corbusiers von zentraler Bedeutung ist. Parallel integriert Cascio Hermann Hallers klassizistische Bronze-Figur Flora (1908) aus der Sammlung des Glarner Kunstvereins. Es ist ein schreitendes, nacktes, blumenstreuendes Mädchen, das das archaische Thema des Verhältnisses des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt exemplarisch andeutet. In vergleichbarem Sinne integrierte auch Ludwig Mies van der Rohe im Aussenbereich des Barcelona Pavillons, der für die Internationale Ausstellung 1929 entstand, eine weibliche Bronze-Figur (Der Morgen von Georg Kolbe), die u.a. den menschlichen Massstab der Architektur und das enge Verhältnis von Architektur und Skulptur verdeutlichte.
Auch im Oberlichtsaal steht dieses Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt im Vordergrund. Cascio setzt zwei Säulen aus Holz und Neonröhren symmetrisch in den Raum. Ihr geometrisches Grundprinzip, das Hexagon, wird etwa in der islamischen Kultur als Basis von Ornamentkompositionen verwendet. Das geometrische Prinzip lässt sich endlos vervielfältigen und bildet im Islam eine Metapher für vollkommene Schönheit und Unendlichkeit. Auch in Cascios Collagen tauchen immer wieder dieselben geometrischen Grundformen, Kreise, Hexagone und Sterne auf. Sie spiegeln die unterschiedlichen Verwendungen des universalen Kompostionsprinzips sowohl für natürliche, wie auch technologische Strukturen. Die Sehnsucht nach Schönheit und Wahrheit, nach der Verbindung von Individuum und Universum, Mikro- und Makrokosmos findet sich in Cascio’s mentalen Denkräumen in vielfältigen Formen. Immer reflektieren sie die zeitlose Utopie des besseren Lebens, den Einklang von Mensch und Umwelt, Natur und Technologie und die damit verbundene Hoffnung auf eine lebenswerte Welt in einer fortschrittsgeprägten Zeit.
Cascio gehört zur Generation von zeitgenössischen Künstlern, die präzise Referenzsysteme innerhalb der Geschichte der Moderne anlegen und sie zu neuen Formationen und Realitäten verflechten. Für die Betrachterinnen und Betrachter sind die komplexen Verweisformationen mit Referenzen auf Kunst und Architektur, Klassizismus, Moderne und Postmoderne, Konstruktivismus, Minimal und Pop Startpunkte eigener Denkexpeditionen.