1.12.2001 – 6.1.2002

Vre Tschudi Eile mit Weile oder langer Weg zur schönen Geschichte

Eine Alltags-Odyssee zu den Arbeiten von Vre Tschudi (*1931 in Baden, lebt und arbeitet in Glarus).

Apfelbütschgi, Orangennetze, Teebeutel, bunte Hüllen von Papiertaschentüchern – Vre Tschudi sammelt Dinge, die in den meisten Haushalten ohne Zögern nach Gebrauch im Mülleimer landen. Die Künstlerin hat einen geschärften Blick für Gegenstände, die ihre Funktion im Alltag verloren haben und dadurch auf ihre eigene Vergänglichkeit verweisen. Gewisse Fundstücke organischer Art, wie die Kerngehäuse von Äpfeln, wurden in Kunstharz gegossen, um so im Zustand ihres Zerfalls konserviert zu werden. Sie verweisen zwar noch auf die Idee, den Archetypus des Apfels – rund, rot und knackig, können aber nicht mehr als solcher wahrgenommen werden. Was von der Frucht nach dem Verzehr ihres Fleisches übrig bleibt, ist, je nach Perspektive, ein Abfallprodukt oder aber auch der eigentliche Kern der Sache, aus dem neues Leben entstehen kann. Vre Tschudis eingegossene Apfelbütschgis, so bescheiden die kleinen Objekte auch daherkommen, sind eigentliche Vanitassymbole des Alltags, die im Verweis auf Vergänglichkeit, das Werden aber ebenso implizieren. Vre Tschudi hat die Fähigkeit, das Potential unscheinbarer Dinge zu erkennen und diese mit wenigen subtilen Gesten durch Zweckentfremdung und Dekontextualisierung in Kunstwerke zu verwandeln. Sie schafft für die uns wertlos gewordenen Objekte neue Geschichten, gibt ihnen einen neuen Platz.
Mit einer Intervention auf den Fensterscheiben des Kunsthausfoyers, ein grossflächig wogendes Muster bunter Hüllen von Papiertaschentüchern, gewann die Künstlerin im letzten Jahr den Glarner Kunstpreis. Nun stellt Vre Tschudi, in der mit der Auszeichnung verbundenen Fokus-Einzelausstellung ihre zeichnerische Arbeit vor. Im Zentrum ihres Interesses stand in den letzten Jahren die Geschichte der kleinen roten Zahnbürste, die nach der Ankunft einer elektrischen Artgenossin arbeitslos wird und sich aufmacht, eine neue Aufgabe zu finden. Vre Tschudi, als mehrfache Grossmutter eine versierte Geschichtenerzählerin, dachte ursprünglich daran, die Abenteuer der Zahnbürste zu illustrieren und als Kinderbuch zu publizieren. Dieses Projekt nahm sie jedoch nicht nur zum Anlass immer weitere Episoden dieser Odyssee durch Haus und Garten zu erfinden, sondern auch sehr freie, von der Vorlage abweichende, zeichnerische Werke zu produzieren. Sie erlaubt sich sozusagen künstlerische Seitensprünge, bei denen sie meist von isolierten Elementen der Geschichte ausgeht und dabei formal und inhaltlich zu experimentieren beginnt. So lassen beispielsweise die mit einem schnellen, spontanen Strich hingeworfenen Zeichnungen, für die Vre Tschudi Schuhwichse benützt hat, die figürlich exakten Zeichnungen des Kinderbuchprojektes fast etwas schulmeisterlich erscheinen.
Ähnlich wie bei den installativen Arbeiten Vre Tschudis, entstammen auch bei den Zeichnungen sowohl Arbeitsmaterial, als auch Motive dem Alltag und der unmittelbaren Lebenswelt der Künstlerin. Sie steht in dieser künstlerischen Position keineswegs isoliert da; viele zeitgenössische Kunstschaffende beziehen sich in ihren Arbeiten explizit auf ihren eigenen Alltag oder die Alltagskultur im weitesten Sinne. Vre Tschudi gelingt es, mit präzisen Eingriffen die feine Grenze zwischen einem nichtssagenden Ding und einem sinnigen Kunstwerk zu verwischen und dadurch einen frischen Blick auf das eigene Umfeld zu provozieren. Sie nimmt, wie sie es selbst einmal formuliert hat, alles auf, was um sie herum ist. Was sie sammelt, ob Objets trouvés, Bildmotive oder Geschichten, bewahrt sie auf, geduldig, zweckfrei, um den Dingen zum richtigen Zeitpunkt eine neue Bestimmung zu geben. Vre Tschudi zieht der Direttissima, die kleinen Nebenwege vor, auf denen man sich zwar verirren kann, aber oft auch unverhofft auf Neues stösst.

KUNSTHAUSGLARUS signum SMALL 14 13 11 12 10 9 8 7 6 5 4 31 2 1