7.7. – 1.9.2002
Imagineered Sculptures / Study of Former Times (and Different Places) / Somnia
Diesen Sommer werden die Ausstellungsräume des Kunsthaus Glarus gleichzeitig von vier vielversprechenden jungen Künstlerinnen und Künstlern bespielt. Zu sehen ist jedoch keine Gruppenausstellung, sondern vier autonome Einzelpräsentationen. Wie dies in der jüngeren Vergangenheit schon öfters der Fall war, wird das Kunsthaus Glarus zur Experimentierplattform für Kunstschaffende, deren Arbeiten dem Kunstpublikum noch kaum bekannt sind. Hellen van Meene, kann zwar im Ausland schon eine beachtliche Ausstellungsbiografie vorweisen, in der Schweiz wurde sie jedoch bisher noch kaum wahrgenommen. Ruth Blesi und David Chieppo stellen ihre Werke im Kunsthaus Glarus zum ersten Mal im Rahmen einer Institution aus. Andrea Iten, deren Videoarbeiten an unzähligen Videofestivals zu sehen waren, wagt in ihrer Ausstellung Somnia den Schritt zu einer räumlichen Inszenierung mit Video und Ton.
Die niederländische Künstlerin Hellen van Meene (*1972 lebt und arbeitet in Alkmaar), die in den letzten Jahren mit ihren inszenierten Porträtfotografien (u.a. in der Photographer’s Gallery in London, 1999) Aufsehen erregt hat, zeigt ihre Arbeit im Kunsthaus Glarus zum ersten Mal auch in der Schweiz. Sie inszeniert Situationen mit Mädchen, die auf den Fotos wirken, als befänden sie sich auf derselben Entwicklungsstufe – zwischen Kind- und Erwachsensein. Den unterschiedlichen Physiognomien der Mädchen zum Trotz, werden die Fotos vor allem von jenem Gefühl beherrscht, im eigenen Körper fremd zu sein. Einer Regisseurin gleich, wählt sie ihre Modelle, deren Kleidung und Make up, bestimmt den Lichteinfall und die Mise en scène. Selten wird vor Ort improvisiert – die Künstlerin hat das Bild schon detailgenau im Kopf, bevor sie auf den Auslöser drückt. Auf den ersten Blick scheinen sich die Bilder van Meenes nahtlos in die klassische Porträtfotografie im Sinne Walker Evans’, Diane Arbus’ oder – als aktuelle Referenz – Rineke Dijkstras einzuordnen. Anders als ihre vermeintlichen VorgängerInnen versucht Hellen van Meene aber nicht die Individualität und Persönlichkeit ihrer Modelle festzuhalten, sondern setzt diese als Schauspielerinnen ein. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass es sich bei van Meenes Arbeiten um präzise und sorgfältige Inszenierungen handelt, in denen die Mädchen gleichzeitig sich selbst wie auch jemand anders sind. Indem Hellen van Meene die Bildkomposition bestimmt, lässt sie ihren Modellen kaum Raum für subjektive Interpretationen. Da sie jedoch mit der Sprache der klassischen Porträtfotografie operiert, wird der Betrachter, die Betrachterin oftmals irregeführt und stolpert in jedem Detail über van Meenes Manipulationen. Was an Hellen van Meenes Arbeit fasziniert und deren paradoxen Charakter definiert, ist das Spiel zwischen Realität und Fiktion, zwischen den Erwartungen des Betrachters und den Anspielungen im Bild.
Ruth Blesi (*1968 in Glarus, lebt und arbeitet in Zürich), die vor kurzem die Kunstklasse der HGKZ abgeschlossen hat, ist letztes Jahr mit ihrer Serie grossformatiger Inkjets computerbearbeiteter Fotografien, den Imagineered Sculptures, aufgefallen. Inmitten von trostlosem Niemandsland, Orten des Übergangs zwischen Zivilisation und Wildnis, erscheinen skurrile Objekte, deren Funktion kaum eindeutig zu bestimmen ist. Handelt es sich um Architekturen, skulpturale Formen, Maschinenteile oder gar um organisches Material? Weshalb sind die Grössenverhältnisse zwischen Objekt und Umgebung jeweils schwer zu lesen, die Lichtverhältnisse irgendwie unnatürlich? Ruth Blesis Arbeit Imagineered Sculptures kann als Übertragung skulpturaler Arbeit in ein digitales Medium gelesen werden. Die grossformatigen Inkjets – weit entfernt von der gewohnten Hochglanzästhetik computerbearbeiteter Fotografien – faszinieren aufgrund ihrer bedrückenden Atmosphäre, die u.a. durch die Unmöglichkeit der Bestimmung und Verortung der «Monumentalskulpturen» innerhalb ihres Bildzusammenhanges entsteht.
David Chieppo (*1973, New Haven, lebt und arbeitet in Zürich) reagiert in unzähligen teils spontan hingeworfenen, teils mit grösster Sorgfalt auf Makulaturpapier ausgeführten Zeichnungen auf seine Umwelt. Ohne sich dabei stilistisch festzulegen, interpretiert er Bildmaterial aus den Medien, vor allem aus der Tagespresse, auf eine ganz subjektive Art und macht sie sich so zu eigen. Es entsteht der Eindruck eines (fiktiv) autobiografisch geprägten Werkes mit kritischen Verweisen auf das Selbstverständnis der westlichen Welt und insbesondere Amerikas. Für seine erste Ausstellung in einer Kunstinstitution, plant der Künstler eine Installation mit Zeichnung und Malerei. Der Schneelisaal wird dabei von neoklassizistischen, auf Papier gezeichneten Säulen strukturiert sein, die als ironischer Kommentar zur modernen 50er-Jahre Architektur des Kunsthauses und der Vorliebe des Künstlers für etwas verstaubte Kunstepochen gelesen werden können. Neben einer Auswahl an Zeichnungen aus seinem unüberschaubaren Schaffen der letzten Jahre, werden auch neuste Bilder – kleinformatige Porträts – zu sehen sein, die er evt. mit Bildern und Skulpturen aus der Sammlung des Glarner Kunstvereins kombinieren wird.
Wenn die Glarner Künstlerin Andrea Iten (*1959, lebt und arbeitet in Basel) in ihren Videos Bilder von Reisen auf ferne Kontinente an uns vorbeiziehen lässt, so nicht um der Exotik dieser Orte willen, sondern um mit der gewonnenen Distanz einen frischen Blick auf die eigene Lebenswelt zu wagen. In ihrer neusten Arbeit Somnia, einer mehrteiligen Video- und Rauminstallation, welche die Verbindung von Videokunst und Theater wagt, wird Andrea Iten die Besucher auf eine Reise in ihr Inneres schicken: auf die Terra incognita des Schlafs. Die Installation, die sich dem Publikum als räumliches Triptychon eröffnet, kann auch begangen und benutzt werden. Wichtige Elemente aus Andrea Itens bisheriger Arbeit – der präzise Umgang mit Text, das Spiel mit Bild- und Tonebene, die Wahl von spektakulär unspektakulären Bildern – verdichten sich in Somnia und erfahren eine wichtige Erweiterung: Die stark räumliche Inszenierung erlaubt dem Betrachter die Bilder aus dem Alltag und aus dem Schlaflabor nicht nur von Aussen zu betrachten, sondern im «Ruheraum» (über eine subtile Toninstallation) zu verinnerlichen. «Somnia notiert die Arbeit des Imaginären. Im permanenten Abschreiten, Verändern, Neuverhandeln der Grenzverläufe zwischen Innen und Aussen, Tag und Nacht, Geräusch und Stille, Komposition und Assoziation entsteht ein Diskurs gegen das Bilderkoma, ein Diskurs, in dessen Schutz der Schlaf sein Geheimnis bewahrt. Selbst die Metapher, ebenso grenzgängerisch wie die Schwelle, die sie besetzt, verweigert sich der Sucht nach Eindeutigkeit: Somnia, der Schlaf – aber auch: Traum, Wahnhaftigkeit, Todesschlaf», schreibt die Dramaturgin Regine Halter, welche die Entstehung des Projektes von Anfang an verfolgt hat.