2.12.2007 – 13.1.2008

Kunstschaffen ausserordentlich 2007: (Grat)Wanderungen

Dominik Bastianello, Rahel Boos, Sarah Burger, Peter Hauser, Katrin Hotz, Ingrid Käser, Daniel Ledergerber, Patrick Rohner, Martin Stützle, Vre Tschudi, Fridolin Walcher, Daniela Zimmermann

Im Frühjahr 2007 hat der Glarner Kunstverein einen Wettbewerb zum Thema (Grat-) Wanderungen ausgeschrieben. Im Gegensatz zur unjurierten Ausstellung des regionalen Kunstschaffens, die jedes Jahr im Dezember stattfindet und an der meist über 40 Personen teilnehmen, sollte dieses Jahr ein Fokus auf eine kleine Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern gelegt werden. Sie sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Arbeit in grosszügigen Platzverhältnissen präsentieren zu können. Von den rund 70 eingegangenen Projekten wurden von einer Fachjury 12 ausgewählt, die nun in der etwas anderen Ausstellung Kunstschaffen: Ausserordentlich! im Kunsthaus Glarus gezeigt werden.

Das Thema der (Grat-) Wanderungen wurde von den Kunstschaffenden sehr unterschiedlich verstanden und umgesetzt. Die einen interpretierten den Begriff eher wörtlich, die anderen viel mehr im übertragenen Sinne. So sind Werke entstanden, die vom Begriff der (Grat-) Wanderungen ausgehend ein bestimmtes Lebensgefühl, eine gewisse Haltung vermitteln oder aber auch als Kunstwerk selbst eine Art Gratwanderung darstellen, welche der Betrachter psychisch oder physisch nachvollziehen soll.

Rahel Boos (*1978, lebt und arbeitet in Muri) lässt den Betrachter mit ihrer begehbaren Installation im Oberlichtsaal (EG) das Gefühl eines Balanceaktes am eigenen Leib erfahren. Obwohl die Konstruktion einem realen, noch ungeschindelten Hausdach tatsächlich sehr nahe kommt, fügt diese sich jedoch auf so ungewohnte Weise in den architektonischen Raum ein, dass nicht nur Assoziationen an einen Dachstock, sondern auch an einen Berggrat geweckt werden könnten. Das von seiner herkömmlichen Funktion her schützende Hausdach wird so nun zu einem Ort des Risikos, der latenten Gefahr des Absturzes, der aber demjenigen, der es zu erklettern wagt – wörtlich gemeinte – neue Perspektiven eröffnet.

Die Bilder von Patrick Rohner (*1959, lebt und arbeitet in Rüti) entstehen nicht in einem klassischen Malprozess, sondern in vom Künstler eingeleiteten selbsttätigen Vorgängen, die zu organischen, naturähnlichen Ergebnissen führen. Im Kunsthaus Glarus zeigt der Künstler zum einen – unkonventionell im Raum stehend – mehrere grosse Bilder, die in ihrem geschichteten Aufbau an mineralische Strukturen erinnern könnten. Zum anderen stellt er zum ersten Mal eine Fotoassemblage einer seiner «Begehungen» aus. Es sind dies Aufnahmen (Landschaftsfragmente, Nahaufnahmen von Felsstrukturen etc.), die während einer seiner unzähligen «Studienwanderungen» durch die Berge des Glarner Hinterlandes entstanden sind; Orte, die er selbst auch schon als seine Forschungsstätte bezeichnet hat, wo er die Mechanismen der Zeit studiert und aufzeichnet. Parallel dazu zeigt er auch eine neue Serie von Super-8-Filmen – Lawinen in Echtzeit gefilmt –, sowie Zeichnungen.

Vre Tschudi (*1931, lebt und arbeitet in Glarus) zeigt im Seitenlichtsaal Zeichnungen und Objekte, die im Zusammenhang mit ihrer Recherche zur Entwicklung des Zaunplatzes entstanden sind. Ausgangslage für das Projekt der Künstlerin, die seit über 50 Jahren am Zaunplatz (auch Landsgemeindeplatz genannt) wohnt und ihn über die Jahre hinweg immer mit Zeichnungen und Fotografien dokumentiert hat, waren historische Dokumente über eine «Wäschehänge-Korporation des nördlichen Zaunplatzes». Da diese Vereinigung der Hausbesitzer nie aufgelöst wurde, spielt Vre Tschudi nun mit dem Gedanken, ihn in Form von künstlerischen Interventionen wiederaufleben zu lassen. So könnte beispielsweise ein Waschtag mit historischen Utensilien durchgeführt werden und eine überdimensionierte Wäschehänge quer über den Platz (und somit über die geparkten Autos) gespannt werden. Eine Modellsituation dieser Idee zeigt Vre Tschudi nun im Kunsthaus.

Auch Daniel Ledergerber (*1963, lebt und arbeitet in Glarus) geht in seiner Arbeit von einer historischen Begebenheit aus, die mit einer heute kaum mehr üblichen Arbeitsweise zu tun hat: Die in den 1930er Jahren als «Krisenprojekt» erbaute Strasse von Schwanden ins Kies, wird noch heute von besonderen «Randsteinen» gesäumt. Es sind dies Stelen aus Matter Flyschsandstein, die damals von den Steinhauern individuell, mit möglichst wenigen Schlägen geschaffen wurden und sozusagen den «schmalen Grat zwischen vermeintlicher Sicherheit und Abgrund» (D.L.) markieren. Daniel Ledergerber hat einige dieser historischen Unikate, mit unverkennbar skultpuralem Charakter, fotografisch porträtiert und stellt diese einem im Aussenraum präsentierten Originalstein gegenüber, an dem alle Zeit- und Gebrauchsspuren sichtbar gelassen wurden.

Ingrid Käser (*1976, lebt und arbeitet in Zürich) zeigt unter dem Titel «Sans Racines» («Ohne Wurzeln») eine Gruppe von Zeichnungen, in der sie sich mit ihren konstanten (Wohn-) Ortsverschiebungen, «kleinen Migrationen», auseinandersetzt. Mit Stift und Pinsel geht sie dem Gefühl ihrer eigenen örtlichen Unverbundenheit nach. Was ist denn «Heimat», wenn sie nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist? fragt sich die Künstlerin und beschäftigt sich infolge mit ihrer Herkunft. Kindheitserinnerungen spielen bei diesen Fragestellungen eine massgebliche Rolle; aus diesem Grund hat die Künstlerin ihren Bruder, Matthias Käser (1978, lebt in Glarus), dazu eingeladen, einige Zeichnungen zu gemeinsam besprochenen Themen beizusteuern. So sind beispielsweise unter dem Titel «Aus dem Familienalbum (der Geist der Kartoffeln)» oder «Erinnerung ans Verlaufen ab Aiguille du Midi» jeweils zwei gezeichnete Versionen zu sehen – eine von Ingrid, die andere von Matthias Käser.

«Es ist eine Gratwanderung und ich werde nicht versuchen die Balance zu halten», postulierte Peter Hauser (*1981, lebt und arbeitet in Zürich) in seiner Eingabe zum Projektwettbewerb. Er zeigt an den Wänden im Treppenhaus, die er wegen ihrer aussergewöhnlichen Höhe ausgewählt hat, sechs grossformatige Fotografien. Mehr als über die Motive charakterisieren sich die ausgewählten Fotos durch Perspektive und Bildausschnitt: Menschen und Pflanzen erscheinen angeschnitten, mit Fokus auf bestimmten Elementen (z.B. Körperteilen) oder Details (z.B. an der Kleidung) und aus ihrem Kontext isoliert. Zwei weitere Fotografien, die auf einem Radiator drapierten Gemüse und Früchte zum Beispiel, wirken wie surreale Stilleben. Obwohl die sechs Bilder durchaus als Einzelbilder gelesen werden können, ergeben sich über die Art der Hängung und die Titelgebung doch Hinweise auf eine thematische Serie. So scheint es, als fungierten die einzelnen Bilder als Zeichen für etwas, das sich nur über die Titel erschliessen lässt.

Martin Stützle (*1959, lebt und arbeitet in Ennenda) zeigt im Oberlichtsaal des Obergeschosses ein Objekt, das paradoxerweise monumental und trotzdem leicht wirkt. 25 Eichenholzlatten werden von einem Hanfseil so in Balance gehalten werden, dass sie eine grosse, kugelförmige Konstruktion bilden, deren Schwerpunkt sich über den Köpfen des Publikums befindet. Die Eichenholzlatten sind mit ihrer Länge von 450 cm, gerade Mal ein paar Zentimeter kleiner als die Deckenhöhe des Saales. Martin Stützle schafft damit ein Objekt, das den Betrachter durch seine schiere Grösse und die Art der Konstruktion zur geistigen Überprüfung der Gleichgewichtsverhältnisse herausfordert. Zwar halten sich die Kräfte von Zug und Schub offensichtlich die Waage; der Betrachter verfällt ob der fragil wirkenden Balance dieses riesigen Objektes aber dennoch ins Staunen.

Daniela Zimmermann (*1977, lebt und arbeitet in Zürich) geht bei ihrer künstlerischen Arbeit von Kleidungsstücken oder textilen Objekten aus, deren Herkunft klar erkennbar sind, und benützt diese als Träger für weitere Bearbeitungen. Im Zentrum ihrer Installation im Kunsthaus stehen ein weisser Fallschirm, sowie dazugehörige Steuer- und Schutzelemente. Der Fallschirm, der – sozusagen kurz vor der Landung – im Saal schwebt, steht für Sicherheit, wie auch für Freiheit. Er garantiert uns eine sichere, sanfte Landung auf der Erde, wie auch euphorische Gefühle beim Flug durch die Lüfte. Die verschiedenen Elemente der Arbeit wurden von Daniela Zimmermann mit Worten bestickt. So tragen die Gurten die Worte «laugh/cry», «play/fight»; die Mütze die Worte «on/off», während auf dem Schirm die Namen von Personen aus ihrem nächsten Umfeld gestickt sind; dies wohl als Hinweis darauf, dass es – im übertragenen Sinne – meist die einem nahestehenden Menschen sind, welche einem auffangen, sollte man auf dem schmalen Grat doch einmal ausrutschen.

Fridolin Walcher (*1951, lebt und arbeitet in Nidfurn) zeigt 27 Porträtaufnahmen von chinesischen Textilarbeiterinnen. Die Gesichter der Arbeiterinnen wirken konzentriert, ihr Blick ist gesenkt und auf die Arbeit vor ihnen fixiert. Keinen Augenblick lang haben sie ihren Blick in die Kamera gerichtet; zu streng sind die Vorschriften im überhitzten, feuchten Saal des Textilbetriebes in der westchinesischen Provinz Anhui, in dem die Frauen (was man im Bild nicht sieht) in mühseliger Handarbeit Baumwolle nach Fremdfasern durchputzen. «Nie in meinem Leben als porträtierender Fotograf habe ich die Gratwanderung zwischen Fotograf und porträtiertem Menschen so exponiert und schmal erlebt», schreibt Fridolin Walcher zu dieser Arbeit, denn eigentlich sei der Kontakt zwischen Fotograf und Fotografiertem eine grundlegende Bedingung, um ein Porträt zu machen. Schliesslich hat er sich durchgerungen, die Frauen trotzdem zu fotografieren, auch wenn ihm keine, unter der strengen Aufsicht der Kontrolleurinnen, einen Blick schenken konnte (oder wollte). Für die eine Frau, die es doch tat, war es wohl ebenfalls eine Gratwanderung.

Das Video «Borderline Reality» von Sarah Burger (*1982, lebt und arbeitet in Zürich) lässt uns Betrachter – wie die angeschnittene Silhouette des Mannes im Bild – vor einem grossen Fenster stehend nach draussen blicken. Hinter den Scheiben spielt sich, in Form einer in Bewegung geratenen Collage aus Pressebildern, das Weltgeschehen ab. So überlagern sich mehrere Bildschichten; die feste Einstellung der Fensterfront und der Person in Rückenansicht bilden den Rahmen für die schnell hintereinander geschnittene Bildabfolge der «Found Footage»-Pressebilder. Das Fenster, das zwar den Blick freilässt, aber doch eine unüberwindbare Schranke zur Aussenwelt darstellt, steht hier für die Situation eines Menschen, der sich im Leben nicht zurechtfindet; der von der Welt, wie sie real oder in der Übersetzung durch die Medien in sein Leben dringt, überfordert ist.

In ihrer Arbeit «Avoir l’intention de rester – douzième maison oder Entstehung von Neuem durch Verschleppung» zeigt Katrin Hotz (*1976, lebt und arbeitet in Biel) ihre Sammlung von 80 Spinnennetzen, die sie mittels Diaprojektor auf eine freistehende Wand projiziert. Die Netze sind weder gezeichnet, noch fotografiert; es handelt sich im Gegenteil um die wirklichen Netze, welche die Künstlerin in den Häusern, in denen sie in den letzten Jahren gewohnt hat, gesammelt und nach ästhetischen Kriterien ausgewählt hat. Der ständige Wechsel von einem Ort zum anderen, sagt Katrin Hotz, sei ihr ein Bedürfnis; er verlangt aber, dass man sich andauernd neu einlässt, sich neu «beheimatet». Die Spinnennetze – jedes individuell und doch an jedem Ort präsent – speichern Erinnerungen an die Orte. Sie sind das persönliche Archiv ihrer Wanderschaft, denn es verfangen sich, je nach Lage und Bauart des Hauses besondere Dinge darin. Parallel zur Projektion zeigt Katrin Hotz eine Serie von Zeichnungen, die im Zusammenhang dazu entstanden ist.

Dominik Bastianello (*1963, lebt und arbeitet in Zürich) hat am Wettbewerb mit einem Projekt teilgenommen, das die Jury in seiner Konzeption und Radikalität überzeugt hat, aber deshalb nicht ausgeführt werden konnte, weil es das Kunsthaus ausser Betrieb gesetzt hätte. Seine Idee war es, einen öffentlichen Durchgang (vom Haupteingang, durch das Foyer und den Warenlift, bis zur Anlieferung an der Ostfassade) durch das Kunsthaus zu konstruieren. Zwar wäre das Kunsthaus dann Tag und Nacht passierbar gewesen, man hätte es aber zu keinem Zeitpunkt mehr betreten können, da die Passage gegen die Räume des Kunsthauses hin allseitig vollkommen geschlossen gewesen wäre. Die Installation «Kunsthauspassage» hätte also nicht im Rahmen einer Ausstellung der Institution Kunsthaus stattgefunden, sondern wäre zu einer Intervention im öffentlichen Raum geworden, welche die Funktion der Institution und die daran geknüpften Erwartungen des Publikums grundsätzlich in Frage gestellt hätte. Dominik Bastianello stellt sein Projekt nun in Form eines Konzeptpapiers vor.

Die Jury der (Grat-) Wanderung
Die für die Wahl der Projekte verantwortliche Jury setzte sich aus folgenden Personen zusammen: Marianne Burki (Leiterin der Abteilung Visuelle Kunst, Pro Helvetia), Dominique Radrizzani (Direktor Musée Jenisch, Vevey) und Christiane Rekade (freie Kuratorin, Berlin, und erste Stipendiatin des Programmes KURATOR, im Rahmen dessen sie 2007/08 die Ausstellungen in der Alten Fabrik Rapperswil kuratiert).

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