21.6. – 7.9.2008

Mind the Gap

Christoph Girardet & Matthias Müller, William Hunt, Nils Nova, Adrian Paci, Martina Sauter, Philip Wiegard

«Mind the Gap» lautet die Warnung beim Ein- und Aussteigen in Londoner U-Bahnen. Die Aufmerksamkeit gilt der Kluft zwischen Zug und Bahnsteig, kann jedoch mehr bedeuten als nicht zu stolpern. Der Übergang umfasst unterschiedliche Orte, Tempi und soziale Konstellationen. Ständiger Wandel, abrupte Übergänge und radikale Umbrüche sind in der beschleunigten Gegenwart zum Alltag geworden. Permanente Neuorientierung bildet eine wesentliche Herausforderung des heutigen Lebens. Sie kann als Chance, aber auch als existentielle Verunsicherung erlebt werden. Die Ausstellung thematisiert solche Übergangssituationen und spiegelt zugleich die aktuelle Situation des Kunsthaus Glarus, das sich mit dem Wechsel der Kuratorin in einer Phase zwischen Kontinuität und Umbruch befindet.

Metaphorisch zeigen die Arbeiten irritierende szenische, räumliche, perspektivische und nicht zuletzt auch existenzielle Brüche. Die Fotografien, Videos, Filmarbeiten, Installationen und Performances provozieren Momente der Irritation, indem sie sprunghafte Übergänge inszenieren und sie zu neuen, kohärenten und doch gebrochenen Bildern zusammenfügen. Sie suchen das Spiel mit räumlichen und zeitlichen Dimensionen, Innen und Aussen, Realität und Spiegelung, Gewohnheit und Ungewissheit, Nostalgie und Progression. Immer wieder wird dem Publikum die vermeintlich sichere Perspektive entzogen. Reale und mentale Räume vermischen sich und bilden Reflektionsräume zwischen Realität und Fiktion, die zur Überprüfung des eigenen Standpunktes in ambivalenten Situationen anregen.

Christoph Girardet (*1966, lebt und arbeitet in Hannover) verwendet «Found Footage»-Material, überwiegend aus Spielfilmen der 50er und 60er-Jahre, das ihm als Ausgangspunkt für seine filmischen Experimente dient. Er zerlegt Szenen und Bilder, um sie anschliessend zu neuen Einheiten zu montieren. In der Arbeit Scratch (2001) erzeugt er die Illusion eines Kratzers in einer Schallplatte, die sich erst auf den zweiten Blick als Loop des Filmes herausstellt. In Kristall (2006, in Zusammenarbeit mit Matthias Müller) werden verschiedene Szenen kombiniert, in denen sich die Filmprotagonisten mit ihrem eigenen Spiegelbild beschäftigen. Durch Wiederholungen ähnlicher Sequenzen aus unterschiedlichen Filmen entwirft er ein Melodram klaustrophobisch anmutender Spiegelkabinette und deckt zugleich die Stereotypie dieser Szenen auf. Die Spiegel erzeugen Bilder im Bild, die den Figuren einen Rahmen geben und sie gleichzeitig als uneins mit sich selbst erscheinen lassen. Indem die Künstler die Sequenzen über eine gespiegelte Projektion abfilmen und die Brüche teils sichtbar bleiben, fügen sie den Szenen eine weitere Ebene der Irritation hinzu. So erscheinen die Figuren mehrfach gebrochen zwischen Selbstvergewisserung und narzisstischer Inszenierung, Gefühlen von Fragilität, Zweifel und Verlust.

William Hunt (*1977, lebt und arbeitet in London) arbeitet im Medium der Performance, deren Vergänglichkeit er auch in Videos und Installationen festhält. Immer setzt er seinen Körper physisch kaum erträglichen Situationen aus und testet so seine eigene Belastbarkeit und Ausdauer. Diese Ausnahmezustände begleitet er mit selbst komponierten Liedern, in denen er seine Situation kommentiert. Die Poesie der Lieder steht meist im Gegensatz zum Image des Performers, der bis zur körperlichen Erschöpfung geht. In seiner neuen Arbeit I Forgot Myself, Looking At You (2008), die er im Kunsthaus Glarus erstmals zeigt, stehen Selbst- und Rollenbild in einem existentiellen Widerstreit. Er lässt das Publikum an einem Backstage-Setting teilhaben, in dem er sich eine Gipsmaske aufträgt. Gefangen in der Maske und blind gegenüber dem Publikum, spielt Hunt anschliessend die Mundharmonika und begleitet die Performance mit der Gitarre. Er verweist auf die doppelte Bedeutung des englischen Begriffs Casting, der einerseits die Technik der Gipsabformung und andererseits die Auswahl von Schauspielern und Musikern meint. Nach dem Auftritt befreit er sich aus der Maske und seiner Rolle als Unterhalter. Mehrere Spiegelebenen erlauben multiple Perspektiven auf diesen Prozess der öffentlichen Identitätskonstruktion. Die Performance zeigt die Ambivalenz der Übergänge zwischen verschiedenen situativen Rollen, die im Alltag gespielt werden.

Nils Nova (*1968, lebt und arbeitet in Luzern) erweitert in seiner Installation Gap the Mind (2008) den Blick auf den Seitenlichtsaal des Kunsthauses um eine irritierende Komponente, die gewohnte Perspektiven durcheinander bringt und die Ausrichtung des Raumes vermeintlich aus den Angeln hebt. Er spiegelt den Aussenraum des umliegenden Parks mit einer wandfüllenden Fototapete, die er auf bestehende sowie eingebaute Wandelemente tapeziert. So entwickelt er im Ausstellungsraum komplexe, mehrfach gebrochene Auffächerungen, die sich in der Wahrnehmung überlagern. Die perspektivischen Verschiebungen und Verdopplungen lassen einen imaginären Raum entstehen. Fotoarbeiten und Malerei mit filmischen Referenzen kontrastieren die installative Situation. Hinter der eingebauten Ecke, quasi in einem unsichtbaren Raum im Raum, begegnen sich Paare, die sich wie Doubles gleichen. In einem anderen Bild wird eine Parkszene aus Michelangelo Antonionis Film Blow Up dem realen Park im Volksgarten gegenüber gestellt. Auch bei diesen Kontrastierungen geht es um Wiederholung und Spiegelung, Realitätsverschiebung und -konstruktion. Novas komplexe installative Arbeiten stellen die reale Dreidimensionalität des Raums in Frage und setzen beim Betrachter eine Kette von Assoziationen um das Verhältnis von Wirklichkeit, Fiktion und Täuschung in Gang.

Adrian Paci (*1969, lebt und arbeitet in Mailand) spiegelt in seiner Arbeit das existentielle Gefühl von Verlust und die Fragilität des menschlichen Daseins. Ausgangspunkt bildet sein biografischer Hintergrund, die Immigration aus Albanien nach Italien Ende der 1990er-Jahre. Seitdem entstanden zahlreiche Videos, Installationen, Skulpturen, Malereien und Fotografien, die den Bereich des Autobiografischen zugunsten der Formulierung allgemeingültiger Archetypen verlassen. In Per Speculum (2006) filmt Paci durch einen Spiegel das vermeintlich unbeschwerte Spiel von Kindern in den Hügeln Südenglands. Erst allmählich gerät das idyllische (Spiegel-)Bild ins Wanken. Die Fiktion einer heilen Kinderwelt wird in dem Moment in Frage gestellt, in dem der Spiegel mit einer Steinschleuder in Stücke geschossen wird. Die Bild-im-Bild-Situation macht die Bruchstelle zwischen Realität und ihrer Wahrnehmung sichtbar. In der Schlusseinstellung sitzen die Kinder in den Ästen eines alten Baumes und blenden die Kamera mit dem Sonnenlicht in den Scherben des Spiegels, den Bruchstücken der vermeintlichen Idylle. Pacis allegorische Bilder nehmen Bezug auf Religions-, Kunst- und Filmgeschichte und eröffnen Themenkreise der Fragilität von Unschuld und Erkenntnis sowie Genealogie und Herkunft, den grossen Fragen der heutigen Identitätskonstruktion.

Martina Sauter (*1974, lebt und arbeitet in Düsseldorf) kombiniert in ihren Fotocollagen Filmstills und andere Fotografien zu scheinbar kohärenten Bildräumen. Erst auf den zweiten Blick teilen harte Schnitte den vermeintlich homogenen Illusionsraum. Die Künstlerin bedient sich verschiedener Filme aus der Tradition des Film Noir, insbesondere bei Alfred Hitchcock, jedoch auch in anderen Genres, etwa bei Robert Altman (Short Cuts) oder David Lynch (Twin Peaks, Lost Highway, Mulholland Drive). Im Gegenüber verwendet sie auch Aufnahmen von Filmstudio-Sets, im Atelier nachgebauten Schauplätzen sowie Aufnahmen von realen Orten. In der Serie der Alten Nationalgalerie erforscht Martina Sauter zum Beispiel einen Drehort von Hitchcocks Film Torn Curtain von 1966. Da die Alte Nationalgalerie während der DDR-Zeit für das amerikanische Filmteam nicht zugänglich war, musste der Ort im Studio nachgebaut werden. Das Nebeneinander von Filmstill und nachträglicher Fotografie der realen Szenerie in Sauters Arbeiten spielt mit den vielschichtigen Dimensionen von Realität und Fiktion und stellt die fotografischen und filmischen Inszenierungsmechanismen zur Diskussion. Mit inkongruenten Übergängen, teilweise verdeckten Räumen und verweigerten Durchblicken schafft Sauter Situationen des Suspense, einem formalen Mittel des Spannungsaufbaus, und regt zum Nachdenken über mögliche narrative Sequenzen an. Sie arbeitet mit allen Mitteln des Films und der Fotografie und spinnt damit ein verführerisches ebenso wie abgründiges Gefüge zwischen Realität und Fiktion.

Philip Wiegard (*1977, lebt und arbeitet in Berlin) zersägt und zerschneidet alltägliches Mobiliar und setzt es anschliessend mit verzerrter Perspektive neu zusammen. Dabei überträgt er die zentralperspektivische Verkürzung aus der Malerei auf die Skulptur. Während dieses kompositorische Mittel im zweidimensionalen Bild eine Illusion der Dreidimensionalität hervorruft, bewirkt es in Wiegards skulpturalen Arbeiten eine höchst irritierende Verzerrung des räumlichen Gefüges. Das Resultat sind reliefartige Gebilde, die noch nicht Bild, aber auch nicht mehr Gegenstand sind, die zwischen der zweiten und dritten Dimension hin- und herspringen. In seinen neuen Arbeiten, Mobili nella Stanza (2008) und Cheval devant la Mer (2008) zitiert er insbesondere die traumähnlichen Kulissenwelten von Giorgio de Chirico, der Mitte der 1920er-Jahre und in den 30er-Jahren Möbelarrangements in Innen- oder Aussenräumen sowie Landschaften in surrealen Raumkonstruktionen darstellte. In einer eigens fürs Kunsthaus hergestellten Arbeit, den Bagni misteriosi (2008), integriert Wiegard Teile des hiesigen Originalmobiliars, das er seinem ursprünglichen Gebrauchszusammenhang entnimmt und in einen räumlichen Nachbau von de Chiricos Bildern übersetzt. So treffen Malerei und Skulptur, Zwei- und Dreidimensionalität in eigenwilligen Kombinationen aufeinander. Der starke Bezug zum Surrealismus, der innere, mentale Bilder entwirft, lenkt die Aufmerksamkeit wiederum auf komplexe Verschiebungen der Realitätswahrnehmung.

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Philip Wiegard,
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William Hunt,
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