3.9. – 19.9.2006
Quelquepart II
Ingrid Wildi (*1963 in Santiago de Chile, lebt und arbeitet in Genf) geht in ihren Video-Essays, die sich zwischen Dokumentar- und Kunstfilm bewegen, meist von Gesprächen aus. Sie stellt Fragen zu Themen der Philosophie, Religion, Politik und verbindet die Antworten der Befragten mit Aussagen über deren eigene Geschichte. Was die Künstlerin dabei interessiert, ist die gesprochene Sprache, die Stimme als eine Art Träger des performativen Gesprächsflusses, den sie später mittels der Montage zu einem eigenen Erzählstrang komponiert. Die Gesprächspartner Ingrid Wildis können Kinder, Jungendliche, Alte oder Zugewanderte sein; meist sind es Menschen, für welche die gesprochene Sprache nichts Selbstverständliches, sondern etwas ist, das sie fortwährend verteidigen und erobern müssen. Diese individuell, kulturell und geschlechterspezifisch geprägte Sprache dient ihr als dokumentarisches Material, das sie im Prozess des Editierens fiktionalisiert, um damit Nichtsichtbares sichtbar zu machen. So unterbricht sie in der Nachbearbeitung beispielsweise den linearen Ablauf des Redeflusses und gliedert die Gesprächsfragmente nach inhaltlichen und rhythmischen Kriterien neu. Dabei geht es ihr nicht darum, das Gesagte zu manipulieren, sondern darum, die Menschen Wahrheiten aussprechen zu lassen, die man sonst nicht zu hören bekäme (Ingrid Wildi). Durch die nichtlineare Zusammensetzung der präzis ausgewählten Gesprächsfragmente, deren Verbindung der Betrachter selbst herstellen muss, wirft Ingrid Wildi diesen auf sein Erinnerungsvermögen zurück.
Das Interview ist für Ingrid Wildi ein Instrument um sowohl über persönliche Lebensgeschichten, wie auch die Weltgeschichte nachzudenken; darüber wie Menschen ihre eigene Geschichte in Bezug auf die kollektive Geschichte verstehen. Es ist ein Ort, wo sich Erinnerungen, Projektionen und Erfundenes vermischen. In der Zeit des Verlustes der Geschichte, in der wir leben, wie Ingrid Wildi selber sagt, gibt sie Menschen Raum für ihre eigene «oral history» und somit die Möglichkeit, persönliches Zeugnis ihrer Existenz abzulegen und gegen das Vergessen und den Verlust der Geschichte anzukämpfen.
Im Kunsthaus Glarus zeigt Ingrid Wildi ihr soeben fertig gestelltes Video-Essay Quelquepart II, das in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler Mauricio Gajardo (*1969 in La Serena, Chile, lebt und arbeitet in Genf) entstanden ist. Letztes Jahr wurde die Künstlerin von Pro Helvetia eingeladen in Kairo ihre Videos zu präsentieren, dort als «artist in residence» einige Monate zu leben und eine neue Arbeit zu schaffen. Konfrontiert mit der Fragestellung wie sich in Kairo eine Videoarbeit realisieren lässt, ohne in die Falle des eurozentrischen Blickes oder der exotischen Darstellung des Orients zu tappen, entschied sich die Künstlerin ägyptischen Kinooperateuren an ihrem Arbeitsort – der Projektionskabine, einem funktionalen Ort also, der nur schwach kulturell konnotiert ist – Fragen zu ihren täglichen Beobachtungen bei der Arbeit zu stellen. Das entstandene Video kann zwar formal als Fortsetzung von Quelquepart I (2001) verstanden werden, inhaltlich nimmt Quelquepart II doch eine etwas andere Wendung.
«Was meinst du zum Film, der gerade projiziert wird?», «Was für ein Publikum sieht sich diesen Film an?», «Wenn du einen Film realisieren könntest, was wäre das für ein Film?», «Gibt es Leute, die das Kino nicht mögen?», «Wie wird der Unterschied von Realität und Fiktion vom Publikum rezipiert?», «Fühlst du dich von denjenigen Filmen, die du zeigst, vertreten?», «Kann das Kino eine Kriegsmaschine sein?»: Ingrid Wildi und Mauricio Gajardo stellen Fragen, die sich auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben der befragten Personen beziehen, auf das Kino als Ort der Unterhaltung und der sozialen Begegnung, sowie auf das Kino als kulturelles Produkt und Produzent von Rollenmodellen. Über diesen Umweg versuchen sich die Künstler an Themenkreise heranzutasten, welche mit Religion, Traditionen, Sexualität, Wertvorstellungen und Konflikten der ägyptischen Gesellschaft zu tun haben. Diese fragende Art der Annäherung an eine fremde Kultur könnte zwar durchaus als soziologische Methode interpretiert werden; Ingrid Wildi und Mauricio Gajardo sind jedoch weniger an einer zielorientierten, wissenschaftlichen Untersuchung, als an einer vorsichtig tastenden Annäherung interessiert. So werden unter anderem auch die Schwierigkeiten einer solchen interkulturellen Kommunikation in Quelquepart II – bei der auch Geschlechterfragen mitspielen – von den erschwerten Kommunikationsbedingungen thematisiert. Nicht nur das Rattern der Filmprojektoren führt in den kleinen, meist recht dunklen Räumen zu einer akustischen Beeinträchtigung des Gespräches. Auch die Tatsache, dass Fragen und Antworten jeweils von einer anwesenden Übersetzerin vom Französischen ins Arabische (und umgekehrt) übersetzt werden müssen, verlangsamt das Gespräch und bietet zusätzlichen Raum für Missverständnisse und Interpretationen, die Ingrid Wildi spielerisch in die Arbeit integriert.