20.5. – 19.8.2012

João Maria Gusmão + Pedro Paiva Those Animals That, At a Distance, Resemble Flies

Das portugiesische Künstlerpaar João Maria Gusmão + Pedro Paiva (*1979/1977, leben und arbeiten in Lissabon) bezeichnet seine Arbeit selbst als «erholsame Metaphysik». In ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in der Schweiz zeigen die Künstler im Kunsthaus Glarus neue Filme und eine raumgreifende Camera Obscura. Gusmão + Paiva arrangieren die eigens für die Ausstellung entwickelten Werkgruppen zu unterschiedlichen thematischen Konstellationen, die sich in den Ausstellungsräumen zu einer Art Traumlandschaft verbinden. Auf humorvolle Art und Weise fordern sie mit optischen Täuschungen und obskuren Experimenten den menschlichen Verstand heraus und werfen dabei vielschichtige Fragen nach der Logik des Abbildens und der Komplexität von Bildproduktion auf. Dieses Prinzip von Illusion und Täuschung verfolgen die Künstler auch mit der Camera Obscura, mittels derer sie ebenfalls illusionäre und imaginäre Bildwelten produzieren. Die dabei angeschnittenen Themen sind vielfältig und wechseln zwischen anthropologisch-aufklärerischer, experimentell-künstlerischer und philosophisch-magischer Art. Gusmão + Paiva beschwören so mal wissenschaftliche, mal absurde, dann wieder träumerische Welten.

Gusmão + Paiva produzieren ihre Kurzfilme mit einfachsten Mitteln, in sparsamer Bildsprache und ohne Ton. Sie arbeiten mit Laienschauspielern und gestalten Spezialeffekte bewusst ohne grossen technischen Aufwand. Die Ästhetik der Filme erinnert an Stummfilme und das klassische Slapstick-Kino der 1920er Jahre, auch lehnt sie sich wiederholt an den frühen wissenschaftlichen Dokumentarfilm an. Eine zentrale Inspirationsquelle des portugiesischen Künstlerduos bilden die Schriften des wenig bekannten französischen Schriftstellers René Daumal (1908-1944). Dieser kritisierte mit seiner «Abissology», einer fiktiven Wissenschaft des Abgrunds, den Verlust von Mythen in der modernen Gesellschaft und suchte erneut nach der Magie der Dinge. Vergleichbar mit Daumal überlagern sich in den Filmen, Fotografien und Skulpturen von Gusmão + Paiva naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit surrealen, unerklärlichen Erscheinungen; das Duo versucht so das Unbegreifliche und Unvorstellbare künstlerisch zu visualisieren. Ihre Filme entfalten einen subtilen magischen Realismus, der Anlass dazu gibt, die unserer Wahrnehmung zugrunde gelegten erkenntnistheoretischen Systeme zu hinterfragen. Sie lassen ein Misstrauen gegenüber der Vorstellung einer universellen Wahrheit oder einer einheitsstiftenden Geschichte durchschimmern und verleiten zu einer alternativen, irgendwo zwischen Mythos und Wissenschaft angesiedelten Weltsicht; technologisch geprägte, rationale Erkenntnissuche und surreal-magische Wahrnehmung beginnen sich zu vermischen.

Für das Kunsthaus Glarus entwickelte das Künstlerduo eine Reihe von neuen Filmen, die sich zusätzlich zu den für das Medium Film relevantesten Themen - der Bewegung und der Zeit - auch mit der Repräsentation von Realität beschäftigen. Die verschiedenen Arbeiten weisen zudem vielschichtige Bezüge zur Kunst-, Fotografie- und Filmgeschichte auf. So erinnert etwa die starke Verlangsamung des bewegten Bildes bei der Dokumentation einfacher Phänomene an die Chrono-Fotografie von Eadweard Muybridge (1830-1904), eines frühen Vorläufers des Mediums Film. Das Re-enactment (die Wiederaufführung) von Muybridges Fotoserie Getting Into Bed (1887) resultiert bei Gusmão + Paiva im Medium des Films in einer Art Umkehrung: Während Muybridge in einer Vielzahl von Studien des menschlichen und tierischen Bewegungsablaufs versuchte, aus fotografischen Einzelbildern Bewegung zu simulieren, geht es Gusmão + Paiva um die Verlangsamung bis hin zum Beinahe-Stillstand des bewegten Bildes. Man könnte auch von einer träumerischen Verhüllung mittels filmischer Technik sprechen.

Wiederholt fokussieren Gusmão + Paiva auf bahnbrechende Erkenntnisse in der Erforschung der Welt und ihrer physikalischen Gesetze, die durch einfache Experimente erzielt und visualisiert wurden: so etwa im Film 15.000 Year Old Lunar Calendar (2012), der als abstraktes Muster auf den Rückenpanzer einer Schildkröte gemalt wird und sich auf früheste Aufzeichnungen eines Mondkalenders in den Lascaux-Höhlen der Dordogne (Frankreich) bezieht. Ein anderer Film mit dem Titel Darwin's Apple, Newton's Monkey (2012) verquickt - in umgekehrter, sprich absurder Weise - Referenzen zur Evolutionstheorie Charles Darwins (1809-1882) und zur Gravitationstheorie Isaac Newtons (1642-1726): Darwin befasste sich mit der Evolution bei Affen, Newton mit dem Fall von Äpfeln.

Ein weiterer Bezugspunkt, der die rein rationalen Erkenntnissysteme in Frage stellt, liegt in der fantastischen Literatur von Jorge Luis Borges. Der argentinische Schriftsteller postulierte in seinen Essays immer wieder die Redundanz aller Ordnungs- und Klassifikationsprinzipien, bis hin zu ihrer Aufhebung. In seinem 1942 verfassten Essay «Die analytische Sprache von John Wilkins» beschrieb er in einer fiktiven chinesischen Enzyklopädie eine alternative Klassifikation der Tierwelt, die die Tiere in 14 Kategorien ordnete. Die letzte dieser absurden Kategorien bilden diejenigen Tiere, die aus der Distanz betrachtet, wie Fliegen aussehen. Mit dem Ausstellungstitel und dem gleichnamigen 16mm-Film Those Animals That, At A Distance, Resemble Flies (2012) referiert das Künstlerpaar somit direkt auf Borges. Die Arbeit von Gusmão + Paiva fokussiert die Verlangsamung des Bienenflugs. Dieser ist für das menschliche Auge natürlicherweise so nicht wahrnehmbar und stellt gleichzeitig auch die Umkehrung der Bewegung in die Ferne, nämlich das Zoom zur Diskussion. Schärfe und Unschärfe sind weitere, sich wiederholende Elemente: Die Arbeit Placing The Fisheye (2012) zeigt etwa, wie eine Hand ein Weitwinkelobjektiv auf eine Kamera schraubt und das Bild dabei seltsame Verzerrungen erfährt.

Im Seitenlichtsaal zaubert eine Camera Obscura bewegte Projektionen abstrakter Formen auf die Bildfläche. Daraus ergibt sich nicht nur eine Spielerei mit Licht, Farbe und Formen, sondern mit dem Titel der Arbeit The Corner Edges Of Objects Appear Rounded At Faraway Distances (2012) auch der Bezug auf einen bereits in der Antike bekannten optischen Effekt - ähnlich wie bei Borges‘ Fliegen: Er besagt, dass die Ecken eines rechteckigen Körpers mit zunehmender Entfernung rund erscheinen.

Die Ausstellung eröffnet vielschichtige Perspektiven auf die Phänomenologie der Dinge, die meist ausserhalb des gewohnten Bereichs des menschlichen Auges liegen. Sie bedürfen deshalb der wiederholten Adaption unseres Geistes und der Auseinandersetzung mit den Grenzen unserer Wahrnehmung und lassen eine Relativität der menschlichen Logik durch-schimmern. João Maria Gusmão + Pedro Paiva experimentieren in humorvoller Weise mit optischen Prinzipien, mit Analogien, Umkehrungen und Wiederholungen, der Konfrontation von Bildern und intellektuellen Konzepten. Sie verführen die Betrachtenden zu einer Reise ins Reich des Absurden, Unfassbaren und Rätselhaften. Sie laden dazu ein, an ihren visuellen Experimenten teilzunehmen, und sind doch weit entfernt von einem theoretischen Diskurs oder einem strikten referenziellen Rahmen.

(Unterstützung)

gusmao paiva glarus MG 8232
João Maria Gusmão + Pedro Paiva,
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