19.5. – 11.8.2013

Luca Frei Thursday Followed Wednesday and Tuesday Followed Monday and There Was Sunday and There Was Saturday and There Was Friday

Der etwas irritierende und doch poetische Titel der Einzelausstellung des Schweizer Künstlers Luca Frei (*1976 in Lugano, lebt und arbeitet in Malmö) geht auf einen Auszug aus Gertrude Steins Roman Mrs. Reynolds zurück. Dort verarbeitet Gertrude Stein das Geschehen des zweiten Weltkriegs aus der Mikroperspektive eines Ehepaars. Während woanders der Krieg wütet, flüchten sich die Akteure in repetitive, banale und merkwürdig poetische Gesprächsrituale und zählen die Tage. Luca Frei versetzt den Besucher in seiner Ausstellung in einen ähnlichen zeitlosen Zustand und fordert dazu auf, die Dinge einmal mit verschobener Perspektive zu betrachten. Seine Arbeiten zielen auf Leerstellen im aktuellen Zeitgeschehen und eröffnen dem Besucher symbolische Handlungsräume. Oft beinhalten sie eine Aufforderung an das Publikum, sich als Akteure zu involvieren, ohne dass es klare Handlungsanweisungen gibt. Mit solchen Irritationen umkreist Frei grundlegende Fragen von Privatem und Öffentlichem, Unbewusstem und Bewusstem, aber auch Identität und Erinnerung. Dabei arbeitet er mit ganz unterschiedlichen Medien, darunter Malerei, Fotografie, Collage, Video und Installation. Zeichnung und im Besonderen die Auseinandersetzung mit der Linie als einfache und unmittelbare Reaktions- und Interventionsmöglichkeit bilden dabei einen Hauptfokus der Ausstellung. Der Künstler lädt zu einer mentalen Reise in Bildern, Assoziationen und eigenen Erfahrungen ein. Die Aufforderung, sich aktiv in die Ausstellung einzubringen, regt letztlich auch zum Nachdenken über die eigene Rolle in der Gegenwart an.
Das Kunsthaus Glarus zeigt – nach der Präsentation im Museo Cantonale d’Arte in Lugano (2010), die zweite institutionelle Einzelausstellung des Künstlers in der Schweiz. In Kooperation mit dem Bonner Kunstverein entsteht eine Publikation.

Neben bestehenden Werken zeigt Luca Frei auch neue Arbeiten, die er eigens für die Räume im Kunsthaus Glarus entwickelte. Für den Schneelisaal etwa hat er eine neue raumfüllende Fotoarbeit mit dem Titel Inheritance (2013) erarbeitet, für die er auf das fotografische Archiv von Negativen seines verstorbenen Vaters zurückgreift. Auf Kniehöhe präsentiert er eine Serie abfotografierter Seiten aus den Sammelordnern, in denen sein Vater, ein Berufsfotograf, seine Negative archivierte. Wie ein Fries oder eine abstrakte musikalische Partitur begleiten diese Fotografien die Bewegung des Publikums im Raum. Sie dienen als nicht identifizierbarer Fundus für die Auswahl der Abzüge, die darüber auf Augenhöhe gezeigt werden. Dies sind Aufnahmen aus dem Alltag seines Heimatkantons, dem Tessin der 1970er und 80er Jahre. Passbilder, Innenräume, Sportveranstaltungen, Sichtbares und Verborgenes, Bewusstes und Unbewusstes, persönliche und kollektive Geschichte werden aus dem Archiv emporgehoben. Die Bilder treten so in einen Dialog mit dem Publikum, seinen Erinnerungen oder Erwartungen. In der scheinbaren Beliebigkeit der Momente, die aus dem Strom der Geschichte herausgehoben werden, entsteht ein Spannungsfeld zwischen kollektiver Geschichte und dem anekdotischen Charakter des Lebens aus der Perspektive des Einzelnen.

Im Seitenlichtsaal analysiert Luca Frei die Beziehung von Segment und Gesamtarrangement, sowie Ausschnitt und Ganzem. Dabei hat er auch die Gestaltungsspielräume des Individuums in Bezug auf übergeordnete Strukturen im Blick. Seine künstlerische Strategie in diesem Raum beinhaltet hauptsächlich die Linie und die Zeichnung. Die Installation What Time is It? (2009) besteht aus einer Anordnung von teils schiefen, rund verlaufenden Wandelementen im Raum. Sie bilden ein Gefüge aus mehreren architektonischen Segmenten. Erst bei näherer Betrachtung verbinden sich die Teilansichten zu einem grösseren Ganzen. Luca Frei verweist damit auf die Herausforderung, sich als Individuum in vorgegebenen räumlichen Strukturen zu orientieren, deren Zusammenhang sich - wie oft auch bei moderner Architektur – nicht unmittelbar erschliesst. Ein ganz ähnliches Zusammenspiel von Teil und Ganzem zeigt sich in der Wandarbeit Keywords after Raymond Williams (2013), für die Frei in Kooperation mit dem britischen Grafikdesigner Will Holder ein aus Schablonen-Segmenten produziertes, typographisches Vokabular entwickelte. Die Typografie basiert einerseits auf der Handschrift des Künstlers und ist andererseits systematisch aus Formbausteinen aufgebaut. Mit dieser Schrift konstruieren Frei und Holder Worte wie «Arbeit», «gewöhnlich», «Mythos», «Tradition», «Klasse» auf der Rückwand des Ausstellungssaals. Alle Begriffe stammen aus dem Buch Keywords: A Vocabulary of Culture and Society von Raymond Williams aus dem Jahr 1976. Sie sind zugleich vertraut und doch äusserst abstrakt. Es handelt sich um Begriffe, in denen individuelle Lebenserfahrung und strukturale Bedeutungen aufeinanderprallen. Frei und Holder experimentieren mit diesem Spannungsfeld, indem sie sie in einer Schrift fixieren, die ebenso individuell wie konstruiert ist. Auf dem Boden und an die Fensterfronten gelehnt befindet sich im selben Saal auch die zweiteilige Arbeit CH-8750 (2010-2013). Sie besteht aus flexiblen Verbindungen von zahlreichen Holzstäben und Ketten in der Länge von insgesamt circa 50 Metern. Die Ausstellungsbesucher sind aufgefordert, die räumliche Positionierung der Elemente zu verändern und dadurch immer neue Konstellationen zu schaffen. Eine spielerische Unvoreingenommenheit und Offenheit für den Zufall prägen diese Arbeit, die sich als kollektiv gestaltete, poetische Zeichnung im Raum ständig verändert.

Auch im Oberlichtsaal entfaltet Frei ein vielschichtiges zeichnerisches Repertoire. Wiederum spielen Eingriffe des Publikums, bzw. des Künstlers sowie Entstehungsprozesse und zeitliche Aspekte eine Rolle. In einem Metallregal der Installation The Sun Twenty Four Hours (2011) stehen 60 mundgeblasene Sanduhren und fordern den Betrachter dazu auf, eigene Zeitspuren, wie etwa die Anwesenheitsdauer in der Ausstellung, zu hinterlassen. Ein Zufall verhalf der Arbeit zudem zu ihrem Titel: In Kartons befinden sich Seiten der italienischen Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore, das ursprüngliche Verpackungsmaterial der Sanduhren. Zeit ist nicht nur individuelle Lebenszeit, sondern auch kollektiver Tauschgegenstand im ökonomischen System. Solche Fragen zum Spannungsverhältnis von individueller Bedeutung und kollektivem gesellschaftlichem Kontext ziehen sich als roter Faden durch die ganze Ausstellung. Nicht einzuordnen zwischen diesen beiden Polen ist der Faktor des Zufalls, der als dritte Komponente einen zentralen Referenzpunkt im künstlerischen Universum von Luca Frei bildet. Die Videoarbeit Casualty and Agency (2013) auf zwei Monitoren zeigt die zufällig entstehenden Spuren von Tintenzeichnungen, die der Künstler bei seiner Arbeit hinterlässt. Eine Serie von Glasarbeiten mit dem Titel Stitched Lines of Least Resistance (2012) entstand im Zerbrechen von Glasplatten mit zufälligen, von der Struktur des Materials abhängigen Bruchstellen. In der neuen Wiederverbindung mit der Technik der Blei-Glas-Malerei entstanden je nach Materialspannung und Handhabung unterschiedliche abstrakte Zeichnungen entlang der Nähte. Die Wandzeichnung mit dem Titel The End of Summer (2010) zeichnet einen geschlossenen Kreis auf die Wand, in dessen Mitte eine Nylonschnur mit gekringeltem Ende und fehlendem Kohlestück befestigt ist. Die abgeschlossene, zeichnerische Geste überlässt dem Betrachter die Spekulation über deren Sinn und zeitlichen Entstehungsprozess. Ist sie etwa im Sinne des Titels als leicht nostalgische Geste des sommerlichen Zeitvertreibs zu verstehen? Ähnlich offen ist die Interpretation auch in den beiden neuen Arbeiten, Strength (2013), den verschränkten Kreisen im Raum angeordneter Stühle und der fotografischen Serie North East South West (2013) von Rückansichten auf mit Schnüren für den Export verschlossenen Lastwagenplanen aus einem Firmenarchiv. Die Arbeiten kombinieren formale Strenge und augenzwinkernde Poesie. Antworten bieten sie jedoch nicht, stattdessen konfrontieren sie scheinbar abgeschlossene Strukturen mit kreativem Spielraum und offenem Ausgang. So sind die Prozesse trotz strenger Vorgabe stets geprägt von subtilen Analogien und poetischen Momenten.

AUSGEWÄHLTE ARBEITEN AUS DER SAMMLUNG DES GLARNER KUNSTVEREINS

In der Ausstellung im Untergeschoss stellt Luca Frei eine persönliche Auswahl von Werken aus der Sammlung des Glarner Kunstvereins in einen Dialog mit seiner eigenen Arbeit. Es ist eine äusserst stringente Auswahl - oftmals sind es Porträts, in der zwischen den Bildern räumliche und teils nahezu physische Beziehungen zueinander etabliert werden. Es herrscht eine Atmosphäre von Strenge und Isolation der Menschen in ihrem sozialen und kulturellen Umfeld vor, die durch die Leere im übrigen Raum noch verstärkt wird. Die Betrachtenden sind durch die radikale Hängung auf einer Wand im Raum gezwungen, sich ebenfalls in Beziehung zu den Bildern, zur Architektur und zur Leere zu setzen. Gleichzeitig sind die Arbeiten von einer Poesie geprägt, die auch in Freis eigener Arbeit stets präsent ist. Es sind Werke von René Auberjonois, Georg Anton Gangyner, Karl Hügin, Carl A. Liner, Hans Markwalder, Ernst Morgenthaler, Alfred Heinrich Pellegrini, Ottilie Wilhelmine Roederstein, Gustav Schneeli, Lill Tschudi, Edouard Vallet, Jakob Wäch sowie anderen zu sehen.

(Unterstützung)

luca frei glarus U7A3211
Ausstellungsansicht
Inheritance 2013 detail press
Luca Frei,
KUNSTHAUSGLARUS signum SMALL 14 13 11 12 10 9 8 7 6 5 4 31 2 1