27.01.–01.04.2002

Gillian Wearing Trilogy

Seit Beginn der 90er Jahre gehört die Künstlerin Gillian Wearing (* 1963 in Birmingham, lebt und arbeitet in Birmingham) zu den international renommiertesten Künstlerinnen der jungen Generation der britischen Kunstschaffenden, den sogenannten Young British Artists. Im Kunsthaus Glarus zeigt sie drei ihrer neusten Videoarbeiten, I love you, Drunk und Prelude, wovon zwei aus einer langjährigen, intensiven Zusammenarbeit mit Strassenalkoholikern entstanden sind.

Gillian Wearing benützt Fotografie und Video, um die Geheimnisse und Komplexitäten menschlicher und zwischenmenschlicher Beziehungen zu erforschen. In all ihren Arbeiten steht der Mensch im Zentrum ihres Interesses. In früheren Arbeiten liess sie vor allem gewöhnliche Leute auf der Strasse – die Vox populi – sprechen; in Interviews, aber auch in der Fotoarbeit, die ihr zum internationalen Durchbruch verholfen hat: Signs that say what you want them to say and not signs that say what someone else want you to say (1992/1993). Die oft gezeigte und auch in der Werbung oft zitierte Arbeit, besteht aus einer Serie von Fotos, auf denen man Leute aus allen gesellschaftlichen Sichten Englands mit einem beschrieben Blatt Papier in der Hand abgebildet sieht, nachdem sie von der Künstlerin aufgefordert worden waren, niederzuschreiben, was ihnen durch den Kopf geht.
In den späteren Arbeiten, ab Mitte der 90er Jahre, legt Wearing vermehrt ihr Augenmerk auf nicht angepasste Gestalten, die sie in London immer wieder antrifft, Personen, die durch ihr Verhalten die Grenzen von festgelegten gesellschaftlichen Normen überschreiten und damit oft an den Rand der Gesellschaft geraten.
1997 bat sie einige Strassenalkoholiker zu sich ins Studio, um mit ihnen ein Probeshooting zu machen. Diese tauchten in einer viel grösseren Anzahl auf, als geplant, da jeder noch einige Kumpel mitgebracht hatte. Die Aufnahmesession geriet zu Chaos, war aber der Ursprung einer mehrjährigen Zusammenarbeit mit einigen Leuten der Gruppe, die in der monumentalen, dreiteiligen Projektion von Drunk (1999) – der Arbeit, die im Zentrum ihrer Ausstellung Trilogy im Kunsthaus Glarus steht – kulminierte. Es ging der Künstlerin jedoch nicht darum, die Alkoholiker in ihrem Alltag zu filmen. Dadurch, dass sie die Personen im Studio vor einem weissen Hintergrund frei agieren lässt, löst sie diese aus einem sozio-historischen Kontext heraus, um ein zeitlose, universelle Aussage zu machen. Es geht in Drunk – anders als in Prelude (2000), wo eine Stimme aus dem Off über die an Leberzirrhose verstorbene, im Bild sichtbare, Zwillingsschwester spricht – nicht um das persönliche Schicksal der Akteure, sondern um psychologische Phänomene wie Enthemmung, Befreiung von Verhaltenskodes und Kontrollverlust, die durch Verwendung von Alkohol erzeugt werden können.
Auch wenn Gillian Wearing offensichtlich von der englischen Dokumentarfilmtradition stark geprägt ist, grenzen sich ihre Arbeiten jedoch bewusst vom Anspruch der «Fly on the wall»-Dokumentarfilme ab. Die Künstlerin misstraut dem objektiven, neutralen Blick der Kamera, denn die Person hinter der Kamera wähle den Bildausschnitt, interpretiere was gesagt werde und beeinflusse so während der Aufnahmen und auch danach, durch die Nachbearbeitung des Materials, das Geschehen. Tatsächlich setzt Gillian Wearing bewusst und konsequent modifizierende Prozesse in ihren Aufnahmen ein, damit der Betrachter sehen kann, dass es sich um eine Interpretation und «Re-präsentation» von Fakten handelt. So können zum Beispiel Mütter mit den Stimmen ihrer Söhne sprechen, Bewegungsabläufe rückwärts gesehen werden, Personen, die ihre innersten Geheimnisse der Kamera preisgeben, grotesk maskiert sein, oder aber die Künstlerin entscheidet sich selber zur Protagonistin von gewissen Akten zu werden, die sie irgendwo beobachten konnte (z.B. Dancing in Peckham, 1994).
Auch Drunk ist durch die formale Reduktion der filmischen Umgebung, die in ihrer Nacktheit an beckettsche Bühnen erinnern kann, durch die komplexe und subtile Konstruktion des Ablaufes während der Postproduktion, alles andere als eine «Big Brother»-Episode. Es ist ein bewusst gesteuerter, aber respektvoller Blick auf Menschen, die unter Einfluss einer bestimmen Substanz vergessen, was unsere Ratio uns gelehrt hat, und dabei in ihrem Verhalten sehr viel emotionaler und körperlicher werden.
Im dritten Video der Trilogy – I love you (1999) – geht es um eine sehr ähnliche Thematik, aber diesmal mit umgekehrten Vorzeichen: Die geloopten Sequenzen, diesmal auf zweiten Blick eindeutig als inszenierte Episode erkennbar, zeigen zwei Paare der englischen Mittelklasse auf ihrem Heimweg, nach einem feuchtfröhlichen Abend.

Bildmaterial zu den Arbeiten von Gillian Wearing ist ab Ende Dezember im Kunsthaus erhältlich.

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