9.9. – 18.11.2012
Unter 30 VIII - Junge Schweizer Kunst
Die Kiefer Hablitzel Stiftung ist eine der bedeutendsten Schweizer Stiftungen für die Förderung des kulturellen Nachwuchses. Im Rahmen ihres Förderprogramms richtet die Stiftung alljährlich einen Wettbewerb für bildende Künstlerinnen und Künstler unter 30 Jahren aus. Nach einem mehrstufigen Auswahlverfahren werden durch eine professionelle Jury die Preisträgerinnen und Preisträger an den Swiss Art Awards während der Art Basel vorgestellt und anschliessend mit einer neuen Arbeit in einer Ausstellung in einem Schweizer Museum präsentiert. Aus 156 Eingaben wurden dieses Jahr 16 Kunstschaffende in die zweite Runde des Wettbewerbs eingeladen, ihre Werke während der Swiss Art Awards in Basel zu präsentieren. Dort wurden 10 Positionen mit einem Preis der Kiefer Hablitzel Stiftung ausgezeichnet. 2012 findet die Ausstellung zum ersten Mal im Kunsthaus Glarus statt. Damit wird den diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträgern erneut die Möglichkeit geboten, ihr Werk in einem institutionellen Rahmen zu zeigen. Die Kunstpreise, die Ausstellungsreihe und die umfangreiche zweisprachige Publikation im Verlag für moderne Kunst Nürnberg werden seit diesem Jahr neu auch von der Ernst Göhner Stiftung unterstützt. Die Präsentationen geben einen guten Einblick in die Qualität des jungen Schweizer Kunstschaffens. Der Jury der Kiefer Hablitzel Stiftung fiel in diesem Jahr die durchgehend hohe Qualität der präsentierten Arbeiten auf. Die Werke zeichnen sich durch ein interessantes, breites Spektrum an Medien aus, wobei unter anderem auch ältere Techniken von der jungen Generation in zeitgenössischer Form aufgegriffen werden. Die Videoarbeiten zeigen ausserdem den heute vielgestaltigen Umgang mit dem Medium.
Michael Meier & Christoph Franz (*1980/ *1982, leben und arbeiten in Zürich) intervenieren mit ihren Arbeiten mit Vorliebe im öffentlichen Raum und setzen ausgewählten Kontexten subversiv-kritische Akzente entgegen. Dabei nehmen sie Themen auf, die das soziale und gesellschaftliche Umfeld eines Ortes charakterisieren. In Glarus bauen sie modellhaft aus Holz eine öffentlich begehbare Kino-Ruine im angrenzenden Aussenraum des Kunsthauses. Die Installation mit dem Titel Kino (2012) erinnert einerseits an den Vandalismus im stillgelegten Alten Kino in Glarus vor zwei Jahren und nimmt die Situation des fehlenden Freiraums für Glarner Jugendliche und diverse andere Bevölkerungsgruppen, die sich aktuell allabendlich im Volkspark rund um das Kunsthaus treffen. Die Kino-Ruine verweist zudem subtil auch auf die künstlichen Ruinen in Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts, die als mentale Zufluchtsorte eine Alternative zum korsettierten Alltag boten. Die Wahl des Ortes direkt angegliedert am Kunsthaus ist ebenso präzise wie provokativ. High und Low treffen hier in mehrfacher Weise aufeinander und fordern vielschichtige Fragestellen heraus.
Claudia Comte (*1983, lebt und arbeitet in Lausanne und Berlin) arbeitet seit einiger Zeit vorwiegend mit Holz und bearbeitet dieses mit Vorliebe mit der Kettensäge zu organisch abstrakten Formen, die sich mit ihrer raffinierten Materialität, Form und einer räumlichen Einbettung geschickt zwischen Abstraktion und Figuration, Installation und Interieur Design, Skulptur und Kunsthandwerk bewegen. Bei der mit dem Kiefer Hablitzel Preis ausgezeichneten Installation No Lemon No Melon (2012) vereint sie eingesägte Holzpanelen, Skulpturen, Sockel, Bilder und Architekturen zu einer Mini-Ausstellung. Ihre Arbeit verweist einerseits auf die europäische Moderne und andererseits auf den zeitgenössischen Umgang mit archaischen Naturformen und Referenzen zur Volkskultur. Im Kunsthaus Glarus zeigt Comte eine neue raumspezifische Installation von mit dem Bunsenbrenner angesengten Baumstämmen und einem abstrakten Wandbild im Seitenlichtsaal.
Augustin Rebetez‘ (*1986, lebt und arbeitet in Mervelier, JU) fantastischer Kosmos speist sich sowohl aus altertümlicher Mythologie und Ikonographie wie aus den Posen düsterer heutiger Popkultur. Allerlei Geister und andere Wesen collagiert Rebetez wandfüllend als unterschiedlich formatige Farbfotografien. Er dehnt die Installation durch Objekte, die einer ähnlichen Bildwelt entstammen, in den Raum aus. Das (sprichwörtliche) Animieren der Fantasiewesen mittels der Technik des Stop Motion geschieht durch die oftmals in die Installationen integrierten Videos. In Glarus zeigt er den Stop-Motion-Animationsfilm Maison (2012), der mit dem Kiefer Hablitzel Preis ausgezeichnet wurde, zusammen mit einer wandfüllenden Serie von neuen Plakaten und Fotografien unter dem Titel Hyper Spiritism (2012).
Ausgangspunkte für die Arbeiten von Dominique Koch (*1983, lebt und arbeitet in Paris) bilden oftmals Texte. Diese entwendet sie ihrem Kontext, zerlegt sie, sucht Möglichkeiten der Rekombination und legt so neue Bedeutungen frei. Für die Audioarbeit Imagine a Situation Where the Rules of the Game Change (2012), mit der die Künstlerin den Kiefer Hablitzel Preis gewann, lud sie vier Personen ein, die in ihrem Beruf mit Sprache arbeiten, über die Grenzen und Möglichkeiten von Sprache zu sprechen. Im Anschluss an das Gespräch, das an eine Talkshow erinnert, isolierte die Künstlerin das Tonmaterial als einzelne, getrennte Stimmen in simultaner Übersetzung. Für die Ausstellung im Kunsthaus Glarus wurde das aufgezeichnete Gespräch erneut zu einer fragmentarischen Narration zusammengefügt. Die Textfragmente liess sie von Schauspielern nachsprechen und präsentiert das Ergebnis als Audioarbeit mit dem Titel A Duet (2012) im Endlosloop mit endloser Kombinationsmöglichkeit von Textfolgen im Ausstellungsraum.
Tudi Delignes (*1986, lebt und arbeitet in Paris) akribische Farbstift-Zeichnungen unheimlicher Gestalten speisen sich aus Bildern, meist Fotografien, die er im Internet findet und in einem arbeitsintensiven Prozess in detailversessener Oberflächen- und Texturenbearbeitung, collageartig zu neuen Kompositionen verbindet. Die Motive changieren zwischen Andeutung und Unkenntlichkeit und zeigen vielerlei Assoziationen zu Natur und Technik, Geschichte und Science Fiction. Eine mehrteilige Reihe von Delignes Zeichnungen mit dem Titel Le Mort et le vivant, l‘inerte et le mouvant (2012) wurde mit dem Kiefer Hablitzel Preis ausgezeichnet. Für die Ausstellung im Kunsthaus Glarus erweitert er die bestehende Serie.
Mirko Baselgia (*1982, in Lantsch/GR, lebt und arbeitet in Zürich) untersucht mit seinen Arbeiten natürlich gewachsene oder künstlich geplante Lebensräume. Immer wieder geht es dabei um Fragen von Funktionalität und Zusammenleben innerhalb dieser Strukturen. Ursache und Wirkung stehen dabei in einem komplexen Wechselverhältnis. Im Kunsthaus Glarus zeigt er mehrere Arbeiten, etwa Industrial Imprisonment London - 1811 und 2011, aus Stahl hergestellte Ausschnitte der Stadtpläne von London um 1811 zum Zeitpunkt des Beginns der Industrialisierung und heute 2011 vor mundgeblasenem Antik-Glas. Neben der Wachsarbeit Antupada – The Bee dreams up the Flower and the Flower dreams up the Bee (2012), die bereits in Basel zu sehen war, zeigt Baselgia in Glarus auch die neu entstandene Installation Pussebladads da la percepziun personala (Possibilities of Personal Perception, 2012), einen Messing-Zaun, der mit der Möglichkeit einer variablen Erscheinungsform im Raum auch auf die unzähligen Möglichkeiten der Realitätswahrnehmung und -gestaltung anspielt.
Die beiden Maler Anne-Sophie Estoppey & Jean-Philippe Volonter (*1987/*1985, leben und arbeiten in Montreux) arbeiten seit Herbst 2011 gemeinsam und haben für die Ausstellung der Swiss Art Awards erstmals eine kollaborative Ausstellungssituation mit sieben Bildern einer romantisch-verklärten, post-apokalyptischen Alternativwelt erarbeitet, die sie in einen narrativen Zusammenhang eines fiktiven utopischen Malerclubs bringen, der in einer Unterwasserwelt existiert. Für die Ausstellung im Kunsthaus Glarus wird diese Serie weiter geführt und mit erzählerischen Momenten einer Reise in eine alternative Unterwasserwelt ergänzt.
Elisa Larvego (*1984, lebt und arbeitet in Genf) setzt sich in ihrer meist seriellen fotografischen Arbeit und mittels Video mit bestimmten Orten und ihren sozialen Kontexten auseinander. Die mit dem Kiefer Hablitzel Preis ausgezeichnete Serie Salt Cedar (2012) fokussiert das abgeschiedene Leben und die wüstenähnliche Landschaft zweier benachbarter Gemeinden im amerikanischen und mexikanischen Grenzgebiet. Larvego nähert sich den Menschen und der Landschaft mit einem behutsamen Blick und porträtiert die von Dickicht und Zäunen definierten Territorien und die Menschen, die ihren Alltag umständlich den politischen Grenzen anpassen müssen. Die bestehende Serie wird für die Ausstellung in Glarus um eine weitere Videoarbeit erweitert.
Anne Rochat (*1982, lebt und arbeitet in Lausanne) hat in den letzten Jahren als Performance-Künstlerin auf sich aufmerksam gemacht. Als Ausgangspunkt für ihre Arbeiten dienen ihr meistens der eigene Körper und seine physischen Grenzen. Diesem setzt sie Antagonisten, meist in Form von ausgewählten Materialien, aber auch Personen entgegen. Backsteine, Plastikplanen oder Stahlplatten werden in Rochats Arbeiten zu Mit- und Gegenspielern und erhalten so eine aktive Rolle. Im mit dem Kiefer Hablitzel Preis ausgezeichneten Video der Performance Before, After, the Last (2012) reisst Rochat mit den Zähnen einen Teppich aus einem Ausstellungsraum im Musée Jenisch. Im Kunsthaus Glarus zeigt sie erstmals eine Videoarbeit mit dem Titel Tytania (2012), die nicht direkt eine Performance, sondern eine gefundene Situation von im Wind tanzenden Taschen an einem Baum in Maputo dokumentiert. Während der Vernissage zeigt sie die Performance Jean, Jean (2012), in der sich zwei Personen aus einer gegenseitigen Verstrickung aus Klebband befreien.
Fabian Chiquet (*1985, Basel) arbeitet an der Schnittstelle von Kunst, Musik und Performance und spielt dabei mit den gängigen Klischees der Popkultur. Sein Output kennt keine Genregrenzen. Nebst Installationen, Malerei, Performances und Video hat er auch Musicals konzipiert und ist Mitglied der Pop-Band The Bianca Story. Chiquet bringt die Attitüde des Pop in den Ausstellungsraum und befragt dabei die gängigen Posen und ihr Sehnsuchtspotential, ohne sie jedoch zu dekonstruieren. Die 2012 von der Kiefer Hablitzel Jury prämierte Arbeit Cry Baby (2012) stellt die reale Alltagswelt einer Uhren-Verkäuferin ihrem Bühnenleben als sich verausgabende Sängerin gegenüber. In der Ausstellung im Kunsthaus Glarus zeigt er eine Videoinstallation, die das Publikum in ein explosives Tanzspektakel mit dem Titel Tsar Dance (2012) entführt. Während der Buchvernissage am 6. Oktober führt er zusammen mit Victor Moser die Musikperformance Warhol & Assange – Die Wikileaks Fuge auf.